Putins kraftloses Gegenprojekt zur EU

Vom Timing her könnte es besser nicht sein. Am Donnerstag gab das russische Umfrageinstitut VCIOM bekannt, 82 Prozent der Bevölkerung sähen einen starken Einflussgewinn Russlands auf internationaler Ebene und 42 Prozent fänden es an der Zeit, dass Russland sich in diesem Jahrhundert den Status einer Supermacht zurückhole. Und just am Donnerstag kam Putin dann dieser Stimmung entgegen, indem er mit den Chefs der Nachbarstaaten Weißrussland und Kasachstan die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) gründete. Kein Schritt Richtung Supermacht, gewiss. Auch keine politische Expansion per se, wie die beteiligten Staatschefs betonten. Aber nach der Annexion der Krim doch ein weiterer Schritt, der signalisieren sollte, dass Russland sich als eigenständiges Machtzentrum in der Region zwischen Europa und China positioniert und vor allem stärker werden will.

Dabei kam die Idee gar nicht so sehr von Putin allein. Auch Kasachstans Staatschef Nursultan Nasarbajew hatte einst für die Integration getrommelt. Nichts Politisches, wie Nasarbajew betonte, nur Wirtschaft. Gewissermaßen als partielle Reintegration dessen, was einst in der Sowjetunion unter einem Gefüge zusammengefasst war. Und außerdem als Gegengewicht zur EU und zu den USA, wie zuletzt immer klarer artikuliert wurde. Wie sehr zusammenpasst, was da wieder zusammengefügt wird, steht auf einem anderen Blatt. Die drei Länder und vor allem ihr Establishment haben in zwei Jahrzehnten Unabhängigkeit einen hohen Grad von Staatsbewusstsein und unantastbarer Souveränität entwickelt.

Andererseits haben die Systeme doch Gemeinsamkeiten: stark autoritäre bis diktatorische Führungsstrukturen. Ein hoher Staatsanteil in der nationalen Ökonomie. Und mit Ausnahme von Weißrussland eine große Abhängigkeit von Rohstoffen und ihrem Export. Seit Gründung der Zollunion 2009 geht die Integration der drei Staaten vor sich und hat nun einen Höhepunkt erreicht. Jetzt werde das Gebilde ein eigenständiges Subjekt internationalen Rechts, so Russlands Handelsminister Andrej Slepnev. Dass die Union wirklich nur rein wirtschaftlich sein soll, will im Westen freilich keiner so richtig glauben. Denn nicht nur Teile des Volkes sehnen sich nach sowjetischer Größe, auch Putin hat ständig auf dieser Klaviatur gespielt.

Von einer politischen Restauration früherer Verhältnisse wollen die zwei Partnerstaaten innerhalb der Union natürlich nichts wissen. Gerade mit Weißrussland hatte Putin im Laufe der Jahre ja schon immer wieder zu demonstrieren versucht, dass er dort Einfluss hat, wiewohl er sich an Weißrusslands Präsidenten Alexandr Lukaschenko, der die Mittelstellung seines Landes als Puffer zwischen der EU und Russland geschickt ausnützt, auch die Zähne ausbeißt. Mit Kasachstans schlauem Langzeitherrscher Nasarbajew hat Putin seine Kräfte klugerweise erst gar nie getestet: Kasachstan ist wirtschaftlich zu autark und politisch weltweit als Autorität in Zentralasien zu akzeptiert, als dass Putin hier Spielraum für etwaige politische Manöver vorfinden würde. Außerdem hat Kasachstan als Rohstoffexporteur auch China an seiner Seite.

Was nun die Bedeutung der betont wirtschaftlichen Integration innerhalb der EAWU betrifft, so lebt vieles noch von Ankündigungen. Ab 1. Januar 2015 soll der Handelsraum den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskraft ermöglichen. Aber die Einigung enthält viele Ausnahmen und zeitliche Verschiebungen. So soll etwa der gemeinsame Strommarkt erst 2019 etabliert sein. Der gemeinsam Gas- und Ölmarkt, der größte Devisenbringer, überhaupt erst 2025. Gänzlich vom Tisch ist die Idee einer gemeinsamen Währung. Für sie bräuchte es zuerst eine tiefe Integration der Finanzmärkte, eine makroökonomische Koordination und eine gemeinsame Zentralbank, die jetzt aber nicht vor 2025 vorgesehen ist.

"Einstweilen macht es nur Sinn, den Anteil der Abrechnungen in nationalen Währungen, darunter des (kasachischen) Tenge, zu steigern", so Jewgeni Vinokurov, Direktor des Zentrums für Integrationsstudien der Eurasischen Bank für Entwicklung. Man wolle bei der Gestaltung der EAWU die Erfahrungen der Europäischen Union nützen, meinte Nasarbajew bei der Vertragsunterzeichnung. Die Integration solle zum Wohlstand der Bürger führen. Menschen sollen ihren Ausbildungs- und Arbeitsort frei wählen können.

Der selbst gewählte Vergleich mit der EU oder mit den USA ist hochgegriffen. Die gemeinsame Wirtschaftsleistung beträgt laut Nasarbajew 2,2 Billionen Dollar – gerade einmal ein Siebentel dessen, was die EU oder die USA erwirtschaften. Auch bei der Größe der Bevölkerung steht die neue Union den westlichen Konkurrenzgebilden hinten nach. Auf 170 Millionen Einwohner bringt es die neue Union. Reicher wäre die Union indes an Rohstoffen. Ein Fünftel der weltweiten Gasreserven lagern auf ihrem Territorium, dazu 15 Prozent der globalen Ölvorkommen. Der Effekt des Zusammenschlusses auf die Wirtschaftsleistung der drei Staaten könne bis 2030 an die 900 Milliarden Dollar betragen, so Nasarbajew.

Dass die EAWU die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben wird, wie Putin meint, ist nicht von der Hand zu weißen. Schon jetzt sind Russland und Kasachstan für die übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion wirtschaftlich bedeutend. Nicht zufällig überlegen denn auch die regionalen Armenhäuser Kirgisien und Armenien einen Beitritt zur Union. Anders die Ukraine: Das Land, das unter dem mittlerweile gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch zuvor wenigstens temporär Signale des Interesses nach Moskau sandte, scheint jetzt keine Ambitionen mehr zu hegen. Große Teile des russischen Establishments sind nicht nur deshalb ungehalten. Sie wollen auch nicht wahrhaben, dass Europa die neue Union einfach meide, wie Putin das schon auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg vorige Woche bemängelte: Offenbar, so Putin, sehe Europa seine Konkurrenzfähigkeit bedroht.

Original source: Welt.de