Wer wissen will, wie die realistische Sicht der wirklich Mächtigen auf die russische Wirtschaft aussieht, ist gut beraten, nicht Wladimir Putin zuzuhören, sondern Elvira Nabiullina. Im Unterschied zum Staatspräsidenten nämlich kann die zierliche Zentralbankchefin nicht das Narrativ verbreiten, dass im Jahr 18 seiner Regentschaft alles gut und jedenfalls besser sei, als dies von systemkritischen Miesmachern dargestellt wird. Und so verblüffte die 55-Jährige Mitte Dezember wieder einmal die Mehrheit der Experten, indem sie den Leitzins um einen Viertelbasispunkt auf nun 7,75 Prozent anhob. Es ist die zweite Erhöhung binnen eines halben Jahres, nachdem der Leitzins zuvor seit 2014 kontinuierlich gesenkt worden war. Die äußeren und inneren Unsicherheiten seien ganz einfach zu hoch, weshalb es „besonders wichtig ist, vorbeugend zu handeln“, sagte Nabiullina.
So erfrischend diese Offenheit ist: Nabiullina sitzt dennoch zwischen zwei Stühlen. Zum einen weiß sie, dass die Wirtschaft aus ihrer längsten postsowjetischen Krise nur schwer herauskommt und die Wachstumsrate 2018 höchstens bei – für ein Schwellenland bescheidenen – 1,7 Prozent liegen wird, weshalb eine stimulierende Leitzinssenkung dringend nötig wäre. Zum anderen hat sie eigenen Worten zufolge keine Klarheit darüber, wie sehr die zur Budgetfüllung beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 1. Januar und die sanktionsbedingte Rubelabwertung die erfolgreich gedrückte Inflation nun wieder anheizen werden. Aus Angst davor entschied sich Nabiullina für die Leitzinserhöhung und nimmt in Kauf, dass die Wirtschaft nicht nur keinen Schwung bekommt, sondern selbst den geringen noch verliert.
Sogar der Kreml gibt sich zurückhaltend
Russland und seine Bevölkerung befinden sich wirtschaftlich betrachtet im Dauerkrisenmodus. Dabei ist das Jahr 2018 noch relativ gut gelaufen, wird doch das Bruttoinlandsprodukt nach zwei Jahren Rezession (2015 und 2016) und einem Jahr zarter Erholung zumindest mit 1,7 Prozent steigen. Für die nächsten Jahre sieht es jedoch schlechter aus. Und schon die kommenden zwölf Monate dürften besonders schwierig werden.
Die renommierte Moskauer Higher School of Economics (HSE) legt in ihrer jüngsten Prognose dar, dass sich das Wachstum auf 1,3 Prozent reduzieren wird. Das sieht inzwischen selbst das generell optimistische Wirtschaftsministerium so. In seiner konservativen Prognose spricht es von gar nur noch einem Prozent Zuwachs.
Der 2019er-Pessimismus ist auch auf die deutschen Unternehmen in Russland übergesprungen, wie die jetzt publizierte Geschäftsklima-Umfrage der Deutsch-Russischen Außenhandelskammer (AHK) ergab: Nur noch 41 Prozent der Befragten sind optimistisch, während vor einem Jahr noch 80 Prozent auf einen Aufschwung gesetzt hatten. 36 Prozent der Befragten befürchten 2019 eine Stagnation, 23 Prozent eine Verschlechterung der russischen Wirtschaft. Nur 30 Prozent der Manager erwarten im nächsten Jahr Exportzuwächse, so die AHK. Der volatile Wechselkurs des Rubels und die westlichen Sanktionen werden als Hauptrisikofaktoren genannt.
Darüber hinaus sehen die Ökonomen der HSE jedoch auch andere bedeutende Risiken. Da sind der Rückgang des Ölpreises und der auch durch die globale Konjunktur bedingte Rückgang des Exports. Dazu die Kosten für die Anpassung an die Sanktionen und die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent. Schließlich noch die neue Budgetregel, mit der die Regierung die Abhängigkeit vom Ölpreis reduzieren will. Die Einnahmen aus dem Ölverkauf, die über dem im Budget vorgeschriebenen Wert (derzeit niedrige 40 Dollar je Barrel) liegen, sollen demnach nicht in die Wirtschaft fließen, sondern als Reserve in den Nationalen Wohlfahrtsfonds.
Währenddessen scheint die Bevölkerung zu ahnen, was da auf sie zukommt. Zwar sind einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts VCIOM im November zufolge 58 Prozent der Russen insgesamt und weitere 21 Prozent teils zufrieden mit dem gegenwärtigen Leben. Aber der soziale Optimismus – also die Erwartungen, was eine Verbesserung der Lebenssituation für die Familie betrifft – schwindet alarmierend schnell, wie VCIOM berichtet. Hatte der Index 2016 noch 51 betragen und war 2017 auf 63 gestiegen, so ist er nun auf 40 abgesackt. Und der Index für die Bewertung der wirtschaftlichen Situation im Land ist auf 43 gesunken, nachdem er im Vorjahr und im Jahr der Krim-Annexion 2014 bei 59 lag.
Zuversicht der Russen schwindet
Dass etwas mit der Entwicklung nicht stimmt, merken die Menschen seit Langem. Die real verfügbaren Einkommen begannen seit der Krim-Annexion plötzlich zu fallen, nachdem sie zuvor jedes Jahr seit Putins Amtsantritt gestiegen waren. Sollten sie auch diesen Dezember wieder geschrumpft sein, würde die Bevölkerung das fünfte Jahr am Stück einen Rückgang erleiden.
Die Russen haben gelernt, mit diesen ökonomischen Widrigkeiten zu leben. Dabei hilft ihnen die Rubelabwertung, sofern man in Kauf nimmt, dass man auf die verteuerten Importprodukte und verteuerte Auslandsreisen verzichtet. Auch die Flucht in Konsumkredite, die zuletzt boomten, federte einige Engpässe ab. Dazu kamen Schleichwege, die die Wirtschaftszeitung „Wedomosti“ zuletzt so beschrieb: Man suche Schlupflöcher, um zu dem mit Importembargo belegten westlichen Käse zu kommen. Man bemühe sich trotz der patriotischen Grundstimmung darum, in den baltischen Nachbarstaaten amerikanische Visa zu erhalten. Und wenn die Einreise in die benachbarte Ukraine auf direktem Wege nicht gelinge, wähle man eben den Weg über das weißrussische Minsk, um nach Kiew zu fliegen.
Der Preis, den die Bevölkerung für die außenpolitischen Abenteuer zahlt, ist dennoch hoch. Und die Menschen ahnen, dass er vorerst noch steigen und der Wohlstand im schwierigen Jahr 2019 zurückgehen wird. Schon beginnen sie, sich darauf einzustellen. Die Vorsicht gegenüber Verbraucherkrediten nimmt zu. Das Konsumwachstum habe sich zuletzt bereits abgeschwächt, sagte Nabiullina.
Kreml-Chef Putin selbst ficht das alles offenbar nicht an. Und so wartete er bei seiner nun achtzehnten Jahrespressekonferenz mit erprobten Durchhalteparolen auf. Die russische Wirtschaft habe sich nicht nur auf die westlichen Sanktionen eingestellt, gewisse einheimische Sektoren hätten durch sie sogar einen Entwicklungsschub erhalten, erklärte er.
Das stimmt auch. Ob und wann sich aber erfüllen wird, was er als neues Ziel ausgegeben hat, wird sich erst weisen. „Angesichts der Größe der Wirtschaft könnten wir sehr gut den fünften Platz (unter den weltweit größten Volkswirtschaften, Anm. der Redaktion) einnehmen“, sagte er. „Und ich denke, das werden wir tun.“ Gegenwärtig rangiert Russland in dem IWF-Ranking mit 1,7 Billionen Dollar auf Platz elf. Rang fünf nimmt derzeit Großbritannien mit knapp drei Billionen Dollar ein.